<p>WIR SIND FÜR SIE DA!</p>
Service

WIR SIND FÜR SIE DA!

Verfassungswidrigkeit der Regelsätze nach SGB II

Bundesverfassungsgericht

Beschluss vom 09.02.2010

Norm: Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG; § 20 Abs. 1-3 SGB II a.F.; §§ 23 Abs. 3 - 26 (insbesondere 24a); 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 1; 74 SGB II; § 73 SGB XII; Regelsatzverordnung 2005; Regelsatzverordnung 2007

Schlagworte:

SGB II, Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für jede/n Einzelne/n - auch in besonderen, nicht nur einmaligen Bedarfslagen, Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers vorhanden, jedoch transparentes und sachgerechtes Bemessungsverfahren zwecks gerichtlicher Nachprüfbarkeit anzuwenden, intransparentes Verfahren sowie bloße Schätzung zur Ermittlung des menschenwürdigen Existenzminimums verfassungswidrig

Redaktionelle Zusammenfassung

Grundlage des Urteils waren ein Verfahren vor dem Hessischen Landessozialgericht sowie zwei Verfahren vor dem Bundessozialgericht. In allen drei Verfahren machten die zum Teil minderjährigen Bezieher/innen von SGB II-Leistungen geltend, die gesetzliche Regelleistung nach dem SGB II in der Fassung vom 24. Dezember 2004 reiche zur Sicherung ihres Existenzminimums nicht aus.

Das Bundesverfassungsgericht urteilte, dass die im SGB II festgelegten Leistungen in Höhe von 345 Euro, 311 Euro und 207 Euro zwar nicht evident unzureichend - und damit nicht materiell verfassungswidrig - seien. Der Gesetzgeber habe jedoch das grundsätzlich  taugliche Berechnungsverfahren in Form des Statistikmodells zur Bemessung des Existenzminimums in verschiedenen Hinsichten verlassen, ohne es durch andere erkennbare oder tragfähige Kriterien zu ersetzen. Die darauf beruhende Unmöglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle des Verfahrens zur Ermittlung des Existenzminimums begründe den gerügten Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG. Zusätzlich leide die Berechnung des Sozialgeldes für Kinder in Bedarfsgemeinschaften an einem völligen Ermittlungsausfall im Hinblick auf den kinderspezifischen Bedarf und sei die Deckung eines unabweisbaren besonderen und nicht nur einmaligen Bedarfs nicht gewährleistet.

Im Einzelnen ergebe sich die Verfassungswidrigkeit laut Bundesverfassungsgericht daraus, dass bei der Berechnung des Eckregelsatzes verschiedene in der Statistik erhobene Ausgaben ohne Begründung nicht berücksichtigt worden sind und zur Berechnung des aktuellen Standes des Existenzminimums systemwidrig auf den jeweiligen Rentenwert als Orientierung abgestellt worden ist. Außerdem beruhe die Vorschrift, dass das Sozialgeld für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres 60 Prozent der Regelleistung für einen alleinstehenden Erwachsenen beträgt, in verfassungswidriger Weise auf einer freihändigen Setzung ohne irgendeine empirische und methodische Fundierung. Der Gesetzgeber habe das Existenzminimums eines minderjährigen Kindes, das mit seinen Eltern in häuslicher Gemeinschaft zusammen lebt, nicht ermittelt, obwohl schon Alltagserfahrungen auf einen besonderen kinder- und altersspezifischen Bedarf hindeuteten. Kinder seien keine kleinen Erwachsenen. Ihr Bedarf habe sich an kindlichen Entwicklungsphasen auszurichten und an dem, was für die Persönlichkeitsentfaltung eines Kindes erforderlich ist.

Ein zusätzlicher Bedarf sei vor allem bei schulpflichtigen Kindern zu erwarten. Notwendige Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten gehörten zu ihrem existenziellen Bedarf, sonst bestehe die Gefahr, dass ohne hinreichende staatliche Leistungen ihre Möglichkeiten eingeschränkt werden, später ihren Lebensunterhalt aus eigenen Kräften bestreiten zu können.

Die  Verfassungsverstöße seien in der Zwischenzeit weder durch die Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003 und die Neubestimmung des regelsatzrelevanten Verbrauchs in der Regelsatzverordnung 2007 noch durch die Mitte 2009 in Kraft getretenen §§ 24a und 74 SGB II beseitigt worden.

So genüge unter anderem auch das durch § 74 SGB II zum 1. Juli 2009 eingeführte Sozialgeld für Kinder ab Beginn des 7. bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres in Höhe von 70 Prozent der Regelleistung für Alleinstehende bereits deshalb nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, weil es sich von der - noch immer -  fehlerhaft ermittelten Regelleistung für Alleinstehende ableite.

Außerdem füge sich der neue § 24a SGB II, nach der für in einer Bedarfsgemeinschaft lebende Schulkinder ein zusätzlicher Betrag in Höhe von 100 Euro pro Schuljahr gezahlt wird, methodisch nicht in das Bedarfssystem des SGB II ein. Diese Leistungen für die Schule setzten voraus, dass entweder das schulpflichtige Kind oder ein Elternteil Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben. Der schulische Bedarf selbst kann also Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II nicht auslösen. Zudem habe der Gesetzgeber auch den notwendigen Schulbedarf eines Kindes bei Erlass des § 24a SGB II nicht empirisch ermittelt. Er wurde offensichtlich freihändig geschätzt.

Schließlich sei es nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts weiterhin mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar, dass im SGB II eine Regelung fehle, die einen Anspruch auf Leistungen eines unabweisbaren, laufenden und nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs vorsieht, wenn dies im Einzelfall  zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums erforderlich ist. Die Gewährung einer Regelleistung als Festbetrag sei zwar grundsätzlich zulässig. Bei der Ordnung von Massenerscheinungen dürfe der Gesetzgeber typisierende und pauschalierende Regelungen treffen. Allerdings verlange Art. 1 Abs. 1 GG, der die Menschenwürde jedes einzelnen Individuums ohne Ausnahme schütze, dass das Existenzminimum in jedem Einzelfall sichergestellt wird. Ein pauschaler Regelleistungsbetrag könne jedoch nach seiner Konzeption nur den durchschnittlichen Bedarf decken. Ein in Sonderfällen auftretender Bedarf atypischen Umfangs oder einer Art, die nicht in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe erfasst ist, würde von der Statistik nicht aussagekräftig ausgewiesen. Auf ihn kann sich die Regelleistung folglich nicht erstrecken.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss der Gesetzgeber einen mit dem Grundgesetz unvereinbaren Rechtszustand nicht rückwirkend beseitigen, wenn dies einer geordneten Finanz- und Haushaltsplanung zuwiderläuft oder die Verfassungsrechtslage bisher nicht hinreichend geklärt war und dem Gesetzgeber aus diesem Grund eine angemessene Frist zu Schaffung einer Neuregelung zu gewähren ist. Deshalb ist der Gesetzgeber nicht dazu verpflichtet, die Leistungen rückwirkend für die Zeit ab Inkrafttreten des SGB II am 1. Januar 2005 neu festzusetzen. Sollte der Gesetzgeber allerdings seiner Pflicht zur Neuregelung bis zum 31. Dezember 2010 nicht nachgekommen sein, wäre ein pflichtwidrig später erlassenes Gesetz schon zum 1. Januar 2011 in Geltung zu setzen.

Diese Entscheidung im Original nachlesen

http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidun…

siehe auch die Stellungnahme des VAMV zum Urteil