Unverschuldet fehlendes sozial-familiäres Leben des nur biologischen Vaters mit seinen Kindern darf nicht zwangsläufig zum Umgangsausschluss führen
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Beschluss vom 21.12.2010
Norm: Art. 6 Abs. 1, 2 GG, Art. 8 Abs. 1, 2 EMRK, §§ 1592, 1600 Abs. 1 Nr.2 i.V.m. Abs. 2, 1684, 1685 BGB
Schlagworte:
Fall Anayo, Umgangsrecht, biologischer Vater, rechtlicher Vater, unverschuldet nichtvorhandenes Familienleben, Kindeswohl, gerichtliche Einzelfallprüfung
Redaktionelle Zusammenfassung
Der nicht mit der Mutter verheiratete, aus Nigeria stammende, biologische Vater begehrt Umgang mit seinen beiden leiblichen Kindern. Sie waren im Dezember 2005 aus einer zweijährigen Beziehung hervorgegangen. Zu diesem Zeitpunkt war die Mutter verheiratet und hatte mit ihrem Ehemann bereits drei Kinder. Gemäß § 1592 Nr. 1 BGB ist ihr Ehemann auch der rechtliche Vater der beiden aus der außerehelichen Beziehung hervorgegangenen Kinder. Der Ehemann beteiligt sich an der Erziehung der Kinder. Der biologische Vater hatte wiederholt bereits vor sowie nach der Geburt die Bitte um Umgang mit den Kindern geäußert. Die rechtlichen Eltern hatten dies abgelehnt, weil sie die Störung ihres Familienfriedens fürchteten und außerdem der Auffassung sind, dass der leibliche Vater die Kinder ausschließlich dazu benutzen will, eine Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland zu erhalten.
Auf Antrag des biologischen Vaters hatte das Amtsgericht ihm ein Recht auf Umgang, und zwar eine Stunde im Monat, eingeräumt. Das Oberlandesgericht hob den Beschluss des Amtsgerichts wieder auf und wies den Antrag des Vaters auf Umgang mit den Kindern mit der Begründung zurück, es ergebe sich für ihn weder aus § 1684 BGB noch aus § 1685 BGB ein Recht auf Umgang. Auch das Grundrecht auf Achtung der Familie aus Art. 6 GG sowie aus Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention erfordere keine andere Auslegung der Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches. Als nichtrechtlicher Vater sei er bereits nicht "Inhaber des Elternrechts" aus Art. 6 Abs. 2 GG. Überdies schütze auch Art. 6 Abs. 1 GG die Beziehung des biologischen Vaters zu seinem Kind nur, wenn zwischen ihnen bereits eine sozial-familiäre Beziehung besteht. Der Schutz dieser Bestimmung entstehe dagegen nicht schon aus dem Wunsch, künftig eine Beziehung zu dem Kind entstehen zu lassen. Dabei komme es auch nicht darauf an, aus welchem Grund keine Beziehung zwischen dem Kind und seinem leiblichen Vater entstanden ist. Das Bundesverfassungsgericht wies die dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde ohne Begründung zurück.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht durch die Entscheidung des Oberlandesgerichts das Recht des nicht mit der Mutter verheirateten Vaters auf sein Familienleben, zumindest aber auf sein Privatleben, aus Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention als verletzt an.
Nach Ansicht des Gerichtshofes liegt ein Eingriff in das Recht auf das Familienleben des biologischen Vaters vor, denn nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs beschränkt sich der Begriff des Familienlebens nicht auf eheliche Beziehungen. Zwar reicht die biologische Verwandtschaft zwischen einem Elternteil und einem Kind allein, also ohne weitere rechtliche oder tatsächliche Merkmale, die auf das Vorliegen einer engen persönlichen Beziehung hindeuten, auch seiner Auffassung nach nicht aus, um unter den Schutz von Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention zu fallen. Doch kann ausnahmsweise auch ein beabsichtigtes Familienleben unter Art. 8 Abs. 1 fallen, und zwar vor allem dann, wenn der Umstand, dass das Familienleben noch nicht vollständig hergestellt war, nicht dem betroffenen Elternteil zugerechnet werden kann. Maßgebliche Kriterien, die in derartigen Fällen für das tatsächliche Vorliegen enger persönlicher Bindungen in Frage kommen, sind unter anderem die Art der Beziehung zwischen den biologischen Eltern sowie das nachweisbare Interesse an dem Kind und das Bekenntnis des Vaters zu ihm vor und nach der Geburt.
Der Umstand, dass noch keine gefestigten Familienbeziehungen zwischen dem biologischen Vater und seinen Kindern bestanden haben, kann ihm nicht vorgeworfen werden, da die rechtlichen Eltern ihm jeglichen Umgang bisher verwehrt hatten.
Als Nachweis für ein ernsthaftes Interesse an seinen Kindern und als Bekenntnis zu ihnen reicht dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte das Verhalten des biologischen Vaters, nämlich die wiederholte Kundgabe des Wunsches auf Umgang mit seinen Kindern bereits vor wie auch nach der Geburt und die zügige Einleitung eines Verfahrens zur Regelung des Umgangs vor den innerstaatlichen Gerichten aus. Im Hinblick auf die Art der Beziehung zwischen den Eltern stellte der Gerichtshof fest, dass sie ungefähr zwei Jahre gedauert habe und nicht rein zufällig war. Für nicht erwiesen hielt er dagegen die Behauptung, der biologischen Vater bezwecke den Umgang nur als Mittel zur Erlangung einer Aufenthaltserlaubnis.
Der Gerichtshof wies im Übrigen darauf hin, dass auf jeden Fall zumindest ein Eingriff in das Recht auf Privatleben vorliegt. Denn nach traditioneller Auffassung der Organe des Europarates handele es sich bei engen Beziehungen wie der biologischen Nachkommenschaft mit ihrem Erzeuger um das auch durch Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Privatleben.
Der Eingriff in das Privatleben ist nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht gerechtfertigt. Er betont dabei, dass es nicht seine Aufgabe sei, die innerstaatlichen Rechtsvorschriften abstrakt zu prüfen. Vielmehr prüfe er, in welcher Weise diese Rechtsvorschriften unter den jeweiligen Umständen auf den Einzelfall angewendet wurden und ob es dabei zu Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention gekommen ist. Der Gerichtshof ist jedoch der Auffassung, dass in Rechtssachen der vorliegenden Art die Überlegung, was dem Kindeswohl am besten dient, von entscheidender Bedeutung ist. Das Oberlandesgericht hat dem biologischen Vater das Umgangsrecht mit seinen Kindern jedoch versagt, ohne zu prüfen, ob ein solcher Umgang unter den besonderen Umständen des Falles dem Wohl der Kinder dienen würde.
Deshalb ist der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass ein fairer Ausgleich zwischen den Interessen der betroffenen Personen - der Mutter, des rechtlichen Vater, des biologischen Vaters, der biologischen Kinder des Ehepaares und den Kindern, die aus der Beziehung zwischen der Mutter und dem biologischen Vaters hervorgingen - erreicht wurde. Er vermisst insofern ausreichende Gründe für den Eingriff in die Rechte des biologischen Vaters im Sinne von Art. 8 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention, weshalb er den Eingriff als nicht "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" erachtet.