Verhältnis von biologischer und sozialer Elternschaft
Bundesgerichtshof
Beschluss vom 26.09.2007
Norm: § 1626 a BGB, § 1672 Abs. 1 BGB, § 1751 Abs.1 BGB, Art. 8
Schlagworte:
Fall Görgülü, Übertragung des Sorgerechts auf den Vater, wenn die Mutter der Adoption zugestimmt hat, Europäische Menschenrechtskonvention, Wohl des Kindes, länger andauerndes Pflegeverhältnis, Stellung der Pflegeeltern, Förderung der Umgangskontakte zur Vorbereitung des Aufenthaltswechsels, Verhältnis von biologischer und sozialer Elternschaft
Redaktionelle Zusammenfassung
Der nicht mit der Mutter verheiratete Vater beantragt die Übertragung der elterlichen Sorge für das gemeinsame Kind auf sich selbst. Die Mutter ist deutsche Staatsangehörige und der Vater ist türkischer Staatsangehöriger. Die Eltern hatten sich bereits vor der Geburt des Kindes im August 1999 getrennt, die Mutter gab das Kind sofort nach der Geburt zur Adoption frei. Das Kind wuchs in einer Pflegefamilie auf, die die Adoption beabsichtigte. Der Vater erfuhr einige Monate nach der Geburt von der Zustimmung der Mutter zur Adoption und bemühte sich seitdem um das Umgangs- und Sorgerecht für das Kind. Diese Verfahren gingen durch viele Instanzen.
Unter anderem ergingen mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und auch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Richter wurden abgelehnt und die mit der Amtsvormundschaft für das Kind beauftragten Personen ausgewechselt. Trotz der außergewöhnlich langen Verfahrensdauer von mittlerweile über 6 Jahren kamen nur vereinzelte und erst in jüngster Zeit regelmäßige Umgangskontakte zwischen dem Vater und dem jetzt achtjährigen Kind zustande.
Der Bundesgerichtshof entschied, dass das Oberlandesgericht den Sorgerechtsantrag des Vaters im Ergebnis zu Recht als gegenwärtig unbegründet abgewiesen hat. Eine Übertragung des Sorgerechts auf den Vater kommt im gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht in Betracht, weil dafür wegen der vom Amtsvormund und dem Oberlandesgericht zu lange geduldeten Verweigerung des Umgangsrechts noch keine tragfähige Basis vorhanden ist und eine noch nicht vollständig aufzufangende Bindungslosigkeit des Kindes droht. Die noch nicht hinreichend gefestigte Bindung des Kindes zu seinem Vater lässt einen endgültigen Wechsel des ständigen Aufenthalts in die väterliche Familie noch nicht zu. Im Hinblick auf das Elternrecht aus Artikel 6 Absatz 2 Grundgesetz einerseits und das Kindeswohl andererseits ist es nach Ansicht des Bundesgerichtshofs geboten, die Bildung einer tragfähigen Beziehung jetzt schnellstmöglich und mit Nachdruck zu fördern, um einen baldigen Wechsel des ständigen Aufenthaltes des Kindes zu ermöglichen.
Solange die elterliche Sorge bei der Geburt des Kindes nach § 1626 a Absatz 2 Bürgerliches Gesetzbuch allein der Mutter zusteht, kann der Vater nur mit ihrer Zustimmung die Übertragung der elterlichen Sorge beantragen. Im vorliegenden Fall bedurfte es der Zustimmung der Mutter aber nicht mehr, weil diese schon unmittelbar nach der Geburt in die Adoption des Kindes eingewilligt hatte, weswegen ihre elterliche Sorge ruhte und eine Amtsvormundschaft an ihre Stelle getreten war (§ 1751 Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch).
Dem Antrag des Vaters ist nach § 1672 Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch stattzugeben, wenn die Übertragung dem Wohl des Kindes dient. Diese erhöhte Anforderung an die Übertragung des Sorgerechts ist auf die Auswirkung der Entscheidung auf das originäre Sorgerecht der Mutter zurückzuführen, da die Übertragung normalerweise mit einem Verlust des originären Sorgerechts der Mutter verbunden ist. Im vorliegenden Fall ruhte die elterliche Sorge der Mutter jedoch bereits durch die Einwilligung in die Adoption. In solchen Fällen ist dem Begehren des Vaters, ihm die elterliche Sorge nach § 1672 Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch allein zu übertragen, aus verfassungsrechtlichen Gründen bereits unter weniger strengen Voraussetzungen zu entsprechen, denn dem Elternrecht des Vaters aus Artikel 6 Absatz 2 Grundgesetz steht kein Grundrecht der Mutter von gleichem Rang entgegen. Daher ist die Vorschrift des § 1672 Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch für solche Fälle verfassungsgemäß dahin auszulegen, dass dem Antrag des Vaters stattzugeben ist, wenn die Übertragung der elterlichen Sorge dem Wohl des Kindes nicht widerspricht.
Zwar hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass bei einem länger andauernden Pflegeverhältnis auch die Pflegefamilie durch Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz geschützt ist, so dass Artikel 6 Absatz 3 Grundgesetz bei der Entscheidung über die Herausnahme des Kindes aus seiner "sozialen"Familie nicht gänzlich außer Acht bleiben darf. Danach können sich zwar auch die Pflegeeltern auf eine eigene Grundrechtsposition berufen, in die aber nicht stets in unzulässiger Weise eingegriffen wird, wenn das Kind später aus der Pflegefamilie herausgenommen werden muss.
Bei der verfassungsrechtlichen Prüfung ist nach Ansicht des Bundesgerichtshofs außerdem zu berücksichtigen, dass Artikel 6 Absatz 1 und 3 Grundgesetz im Zusammenhang mit dem Elternrecht des Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz gesehen werden muss, auf das sich die Pflegeeltern nicht berufen können. Für die biologischen Eltern ist die Trennung von ihrem Kind hingegen der stärkste vorstellbare Eingriff in das Elternrecht, der nur bei strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Die Stellung der Pflegeeltern ist nach Ansicht des Bundesgerichtshofes in diesem Fall umso weniger geschützt, als sie sich auf eine spätere Herausgabe des Kindes einstellen mussten, weil der Vater schon wenige Monate nach der Geburt die Feststellung der Vaterschaft und die Übertragung des Sorgerechts beantragt hatte. Einer entsprechenden gerichtlichen Entscheidung stand seinerzeit wegen der Zustimmung der Mutter zur Adoption und fehlender Zweifel an der Erziehungseignung des Vaters nichts entgegen. Für die Pflegeeltern war deswegen nach Ansicht des Bundesgerichtshofs schon nach kürzester Zeit erkennbar, dass die angestrebte Adoption und die Ersetzung der Zustimmung des Vaters nicht zu erreichen waren und die weitere Entwicklung zu einer Stärkung des Vater-Kind-Verhältnisses und schließlich zu einem Umzug des Kindes in die Familie seines biologischen Vaters führen musste.
Weiter ist § 1672 Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch, der dem Vater die Übertragung der elterlichen Sorge unter Aufhebung der bestehenden Amtsvormundschaft ermöglicht, im Lichte des Artikels 8 der Menschenrechtskonvention auszulegen. Danach ist jeder Vertragsstaat, also auch die Bundesrepublik Deutschland, verpflichtet, geeignete Maßnahmen zur Zusammenführung eines biologischen Elternteils mit seinem Kind zu ergreifen. Denn selbst in Fällen der Adoptionspflege entspricht es zunächst dem Kindesinteresse, die familiären Beziehungen des Kindes zum biologischen Vater aufrechtzuerhalten, weil der Abbruch derartiger Beziehungen die Trennung des Kindes von seinen Wurzeln bedeutet.
Die Gerichte müssen prüfen, ob eine Zusammenführung von Vater und Kind möglich ist, die die Belastungen des Kindes soweit wie möglich vermindert. In diese Abwägung sind nicht nur die unmittelbaren Auswirkungen der Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern einzubeziehen, sondern auch die langfristigen Auswirkungen einer dauerhaften Trennung von seinem biologischen Vater.
Zwar bedeutet die Trennung von seiner unmittelbaren Bezugsperson für das Kind regelmäßig eine erhebliche psychische Belastung. Dies darf aber allein nicht genügen, um die Herausgabe des Kindes zu verweigern. Denn andernfalls wäre die Zusammenführung von Kind und Eltern immer ausgeschlossen, wenn das Kind seine "sozialen" Eltern gefunden hat. Mit Blick auf das Kindeswohl ist nach Ansicht des Bundesgerichtshofs deswegen auch danach zu unterscheiden ob das Kind von einer Pflegefamilie in eine andere Pflegestelle wechseln soll oder ob ein Elternteil den Wechsel in seinen Haushalt anstrebt. In letzterem Fall gebieten der grundrechtliche Schutz dieses Elternteils und die konventionskonforme Auslegung des § 1672 Bürgerliches Gesetzbuch eine Absenkung der Eingriffsschwelle mit dem Ziel der Zusammenführung von Vater und Kind.
Gegenwärtig hat das Kind naturgemäß noch eine stärkere Bindung zu seinen Pflegeeltern und dem in dieser Familie wohnenden Pflegebruder, weil es dort seit seiner Geburt aufgewachsen ist. Allerdings ist - wie sich nach Ansicht des Bundesgerichtshofs im Laufe des Verfahrens gezeigt hat - auch das Verhältnis zu den Pflegeeltern nicht unbelastet geblieben, so dass der Aufbau einer vertrauensvollen Bindung zum Vater und dessen Ehefrau nach Ansicht des Bundesgerichtshofs umso dringlicher erscheint.
Insbesondere der Ablauf der Umgangskontakte hat gezeigt, dass für die Pflegeeltern nicht stets das Kindeswohl an erster Stelle der Motive ihres Verhaltens stand. Das ergibt sich nach Ansicht des Bundesgerichtshofs schon daraus, dass die Pflegeeltern das Kind häufig nicht hinreichend für die Umgangskontakte motiviert hatten und versuchten, eine vertrauensvolle Bindung des Kindes zum Vater, die Voraussetzung für einen Wechsel des Aufenthalts ist, zu untergraben. Ein solches Verhalten war häufig im Zusammenhang mit den aus nicht nachvollziehbaren Gründen gescheiterten Umgangskontakten zu beobachten.
Das Verhalten des Kindes im Rahmen der Umgangskontakte ließ erkennen, in welchen Loyalitätskonflikt das Kind schon jetzt geraten ist. Die Pflegeeltern werden nach Ansicht des Bundesgerichtshofs einsehen müssen, dass die ursprünglich beabsichtigte Adoption nicht möglich ist und es deswegen ihre dringendste Aufgabe als Pflegefamilie ist, den Kontakt zu einem erziehungsgeeigneten und -bereiten Elternteil zu stärken.