Prozesskostenhilfe bei beabsichtigter Abweichung von höchstrichterlicher Rechtsprechung
Bundesverfassungsgericht
Beschluss vom 29.05.2006
Norm: Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG, § 1671 BGB
Schlagworte:
Prozesskostenhilfe, Gebot der Rechtsschutzgleichheit, Anforderungen an die Erfolgsaussichten, vom Gericht beabsichtigte Abweichung von einer höchstrichterlich geklärten Rechtsauffassung
Redaktionelle Zusammenfassung
Die Mutter von zwei Kindern wendete sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für einen Antrag auf Übertragung des alleinigen Sorgerechts. Das Bundesverfassungsgericht stellte einen Verfassungsverstoß fest, hob die angegriffenen Entscheidungen auf und verwies die Sache ans Oberlandesgericht zurück.
Die Mutter ist mit dem Vater ihrer beiden Kinder verheiratet und wollte im Rahmen des Scheidungsverfahrens einen Antrag auf Übertragung des alleinigen Sorgerechts auf sich selbst stellen. Für diesen Antrag wurde ihr erst vom Amtsgericht, dann vom Oberlandesgericht die Prozesskostenhilfe verweigert, mit der Begründung, der Antrag habe keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
Die Mutter hatte vorgetragen, der Vater habe den Kontakt zu den Kindern praktisch abgebrochen, zahle keinen Unterhalt, verweigere seine Mitwirkung bei Entscheidungen und erscheine zu Gesprächen mit dem Jugendamt nicht. Diese ablehnende Haltung sei keine Basis für die Beibehaltung der gemeinsamen Sorge.
Amtsgericht und Oberlandesgericht sahen hierin keine ausreichende Begründung für die Aufhebung der gemeinsamen Sorge. Das Oberlandesgericht war der Ansicht, dass die gemeinsame Sorge der normative Regelfall sei. Die Eltern seien verpflichtet, ihren persönlichen Streit im Interesse der Kinder zurückzustellen und bei der Erziehung der Kinder zusammenzuwirken. Die Übertragung des Sorgerechts auf einen Elternteil komme nur in Betracht, wenn die Eltern in grundsätzlichen Fragen der Erziehung verschiedener Meinung seien und ihr tief greifendes Zerwürfnis sie daran hindere, die Belange der Kinder angemessen wahrzunehmen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebietet das Grundgesetz eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Verfassungsrechtlich ist es dabei unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichend Aussicht auf Erfolg hat. Das Gebot der Rechtsschutzgleichheit verlangt keine völlige Gleichstellung; der Unbemittelte muss vielmehr nur dem Bemittelten gleichgestellt werden, der seine Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigt. Die Anforderungen an die Erfolgsaussichten dürfen jedoch nicht überspannt werden.
Der Bundesgerichtshof hat die Frage, ob nach § 1671 Bürgerliches Gesetzbuch der gemeinsamen Sorge der Vorrang gegenüber der alleinigen Sorge einzuräumen ist, bereits höchstrichterlich entschieden. Demnach enthält die Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge kein Regel-Ausnahme-Verhältnis in dem Sinne, dass eine Priorität zu Gunsten der gemeinsamen elterlichen Sorge besteht und die alleinige Sorge nur in Ausnahmefällen als ultima ratio in Betracht kommen soll. Zwar soll es in erster Linie eine Sache der Eltern sein zu entscheiden, ob sie die gemeinsame Sorge nach ihrer Scheidung beibehalten wollen oder nicht. Daraus ist aber nicht der Schluss zu ziehen, dass der gemeinsamen Sorge ein Vorrang vor der alleinigen Sorge eines Elternteils eingeräumt wird.
Prozesskostenhilfe darf nicht versagt werden, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt.
Dies gilt erst recht, wenn es sich wie im vorliegenden Fall um eine bereits höchstrichterlich geklärte Rechtsfrage handelt und das Instanzgericht von dieser Rechtsauffassung bei der Beurteilung der Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung abweicht.
Das Oberlandesgericht hatte bei der Bewertung der Erfolgsaussichten des Antrags, den die Mutter stellen wollte, eine von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweichende Rechtsauffassung vertreten und darauf die Nichtbewilligung der Prozesskostenhilfe gestützt. Damit hat das Oberlandesgericht nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts keine vernünftige Abwägung der Prozessaussichten vorgenommen.