Kein PA-Syndrom bei Verweigerung des Kontaktes zum Vater
Kammergericht (Oberlandesgericht Berlin)
Beschluss vom 01.07.2005
Norm: § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB
Schlagworte:
Gemeinsame Sorge, Übertragung auf einen Elternteil, kein PA-Syndrom, Verweigerung des Kontaktes zum Vater durch das Kind, andauernde Streitigkeiten der Eltern
Redaktionelle Zusammenfassung
Der mit der Mutter verheiratete Vater wendete sich gegen die nach der Trennung der Eltern erfolgte Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf die Mutter der beiden gemeinsamen Kinder. Das Gericht entschied, die elterliche Sorge für die Tochter der Mutter allein zu übertragen und die elterliche Sorge für den Sohn beiden Eltern gemeinsam zuzusprechen.
Leben die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern nicht nur vorübergehend getrennt, ist gemäß § 1671 Absatz 2 Nummer 2 Bürgerliches Gesetzbuch einem Elternteil auf seinen Antrag - auch ohne die Zustimmung des anderen Elternteils - die elterliche Sorge alleine zu übertragen, wenn dies dem Kindeswohl am besten entspricht. Aus Artikel 6 Absatz 2 und Artikel 3 Grundgesetz folgt zwar ein grundsätzliches Recht beider Eltern, ihre Kinder zu pflegen und zu erziehen. Diesem Recht steht aber auch die Verantwortung der Eltern für das Wohl ihrer Kinder gegenüber.
Es besteht keine gesetzliche Vermutung dafür, dass die gemeinsame elterliche Sorge im Zweifel die für das Kind beste Form der Wahrnehmung elterlicher Verantwortung ist.
Den gesetzlichen Neuregelungen der Kindschaftsrechtsreform kann keine Priorität zugunsten der gemeinsamen Sorge entnommen werden. Auch ist die Alleinsorge nach den neuen Vorschriften nicht nur als ultima ratio, also als letzter Ausweg in einem Interessenkonflikt, einzustufen. Vielmehr kann die elterliche Sorge nur dann gemeinsam ausgeübt werden, wenn zwischen den Eltern eine objektive und subjektive Kommunikationsbereitschaft besteht. Nur dann ist sichergestellt, dass es bei Fortbestehen der gemeinsamen Sorge keine fortwährenden Streitigkeiten über die Belange des Kindes gibt, welche zu einer Belastung des Kindes führen können, die nicht mit dem Wohl des Kindes vereinbar ist.
Die Eltern der Kinder waren im vorliegenden Fall seit Jahren stark zerstritten und in gerichtliche Auseinandersetzungen gegeneinander verstrickt.
Trotz ernsthafter Zweifel an der erforderlichen Kommunikationsfähigkeit der Eltern hielt das Gericht ausnahmsweise zum Wohle des Kindes die gemeinsame Sorge der Eltern für den Sohn für angebracht. Das Gericht begründete dies mit der sehr starken Beziehung des Sohnes zu seinem Vater und dem Bemühen des Kindes, keinen Elternteil zurückzusetzen. Dies sei für den Sohn von immenser Bedeutung, weshalb es im Interesse des Kindes notwendig sei, dass der Vater weiterhin Mitinhaber der elterlichen Sorge bleibe.
Über die Auswirkungen des Verlusts eines Elternteils infolge der Trennung der Eltern auf ein Kind besteht in der Wissenschaft keinesfalls Einigkeit. Studien aus den USA belegen, dass Kinder im Alter von 9-12 Jahren sich häufig mit einem Elternteil verbünden, den sie ihrer Meinung nach an der Trennung für unschuldig erachten. Allerdings ist diese ablehnende Haltung zum größten Teil nur vorübergehend und wird nach einigen Jahren, spätestens vor Vollendung des 18. Lebensjahres wieder aufgegeben.
Dieses "Verbünden" war vorliegend bei der Tochter der Fall, die den Kontakt zum Vater seit fast 3 Jahren verweigerte. Ein Gutachten stellte die Überidentifizierung mit der Mutter und die Übernahme der durch die Mutter gezeigten Feindseligkeiten fest.
Dieses Verhalten liegt in der Nähe eines PA-Syndroms (parental alienation syndrome), ist aber zugleich eine Strategie des Kindes zur Bewältigung der konfliktbehafteten Trennung der Eltern. Durch die Ablehnung des Vaters vereinfacht das Kind die Situation für sich und entlastet sich emotional, weil es nicht weiß, wie es in der Konfliktlage den Kontakt zum Vater aushalten soll.
Diese Positionierung der Tochter im Streit der Eltern kann im vorliegenden Fall nicht als PA-Syndrom bezeichnet werden.
Der Begriff des PA-Syndroms kommt aus den USA und bezeichnet eine vom Kind ausgehende Diffamierungskampagne des einen Elternteils, die aus eigenen Beiträgen des Kindes, aber auch aus einer Programmierung des Kindes durch den anderen Elternteil besteht. Seit Ende der Neunziger Jahre wird der Begriff in Deutschland vermehrt verwendet, um Fälle zu beschreiben, in denen ein Kind sich weigert, den Umgang mit einem Elternteil wahrzunehmen.
Theorien, die im Abbruch der Beziehung zu einem Elternteil durch das Kind eine Gefährdung der Entwicklung des Kindes sehen und zur Vermeidung dieser Gefährdung eine gerichtliche Intervention fordern, überzeugten die erkennende Einzelrichterin nicht, da diese Theorien nicht ausreichend durch empirisches Material gestützt werden.
Ohne die Strategie des Kindes gutzuheißen, war das Gericht jedoch der Ansicht, dass die Haltung der Tochter, die es ihr ermöglicht, mit dem Konflikt zu leben, zu respektieren sei. Ein Ende der Streitigkeiten der Eltern sei nicht absehbar.
Die Tochter empfindet die gemeinsame Sorge der Eltern als belastend und wünscht sich ihre Beendigung. Sie lebt seit der Trennung der Eltern bei der Mutter und hat eine enge Bindung zu ihr. Daher entschied das Gericht, dass es - aus Gründen der Kontinuität, aber auch weil es dem Wunsch der Tochter entspräche - für das Wohl des Kindes das Beste sei, die alleinige Sorge der Mutter zuzusprechen.